Doch, das ist ein Lotus

Fahrbericht Lotus Eletre S

Lotus – nicht nur bei Autofans bringt dieser Name eine Saite zum Schwingen. Vor dem inneren Auge erscheinen Bilder von den kaum zu schlagenden Formel-1-Rennwagen der 60er- und 70e- Jahre, von James Bond im weissen Untersee-Lotus, von «Pretty Women» Julia Roberts, die Richard Gere gekonnt im flachen Esprit durch Hollywood chauffiert – und dabei fachsimpelt: «Der hat eine ganz normale H-Schaltung.»

Die hat dieser Lotus nicht: Das Modell Eletre S ist ein grosses, elektrisches SUV und von den superleichten, engen Sportwagen der englischen Marke meilenweit entfernt. Der Eletre ist dreimal so schwer wie ein Lotus Elise, zweieinhalb Tonnen. Erst auf den zweiten Blick gibt’s dann doch Parallelen zu Lotus' grosser Sportwagen-Tradition. Nach einigen Kilometern wird einem dann bewusst: Doch, das ist ein Lotus.

Ganz schön flott

Das beginnt bereits mit der Optik. Klar, ein 5,10 Meter langes, 2,24 Meter breites SUV ist kein Rennwagen, aber die vielen aerodynamischen Details erzielen auch optischen die gewünschte Wirkung. Kanäle in Motorhaube, Front- und Heckschürze leiten den Fahrwind gekonnt um die 1,64 Meter flache Karosserie herum. Ergebnis: Ein niedriger Luftwiderstand (cW 0,26) und damit eine Höchstgeschwindigkeit von 258 km/h. Ganz schön flott für ein Elektroauto.

Viele Anbauteile wie Spoiler, Schweller und untere Stossfänger sind aus Carbon. Mächtige 23-Zoll-Räder stehen umrahmt von Carbon in den Radhäusern. Wo sonst Aussenspiegel sitzen, strecken sich Kameras zur Seite. Die weit öffnenden Türen sorgen für einen weiteren Wow-Effekt: Der Innenraum des Lotus Eletre S ist luxuriös ausgestattet: Leder und Alcantara, wohin man schaut und fühlt. Sogar die Hutablage über dem 688 Liter grossen Kofferraum ist mit Leder bezogen – wie auch das Armaturenbrett und Türverkleidungen. Auch die Haltegriffe sind mit Leder bezogen. Hartplastik sucht man im Lotus vergebens. Das Alcantara-Lenkrad und die Sportsitze sind eine weitere Reminiszenz an die Sporthistorie der Marke

Der grosse Bildschirm auf der Mittelkonsole lässt sich in der Neigung verstellen. Vor Fahrer und Beifahrer sitzen noch drei Zentimeter schmale Displays. Der Beifahrer steuert damit auch das Soundsystem. Der Fahrer bekommt wichtige Infos ins Head-up-Display gespiegelt. Die Lautsprecher in den Türen, 23 gibt es insgesamt, sehen hochwertig aus und erinnern an Turbolader. Der Elektro S ist, was die Materialien anbetrifft, eine ehrliche Haut: Was wie Leder aussieht, ist auch Leder. Ebenso ist es beim Metall der Schalter für Temperatur und dem Wählhebel der Automatik.

Hoher Preis relativiert sich

Der neue Lotus-Eigner, Geely aus China, hat an nichts gespart. Mit einem Grundpreis von knapp CHF 125’000.-- ist der Lotus Eletre S aber auch kein Schnäppchen. Im Testwagen stecken zudem CHF 34’810.-- an Sonderausstattungen – wie der Highway Assist. Er ermöglicht automatisiertes Fahren auf der Autobahn und hat dazu vier Laser-Radarsysteme (Lidar) an Bord. Der vordere Lidar-Sensor fährt elektrisch aus, wenn das System aktiviert wird. Nur wenige Autohersteller setzten bisher Lidars ein, weil sie schlicht zu teuer sind. Gemessen daran relativiert sich der Preis des Eletre wieder.

Die teuren Lidars und ein herkömmliches Radarsystem tasten ständig die Umgebung ab und zeigen sie stilisiert auf dem Bildschirm. Der Highway Assist könnte schon komplett das Steuer übernehmen, wenn das in Deutschland zugelassen wäre. So kann er zumindest auf der Autobahn bis Tempo 150 Lenkung, Gas und Bremse selbsttätig regulieren.

Eine Fahrmaschine

Doch eigentlich ist ein Lotus ja kein Chauffeursauto, auch kein digitales. Hier will man selbst ans Sportlenkrad und die präzise, direkte Lenkung bedienen. Der elektrische Allradantrieb des Eletre S liefert 450 kW (603 PS). Die Beschleunigung von null auf 100 km/h dauert 4,5 Sekunden. Das ist in dieser Fahrzeugklasse nichts Besonderes mehr – wohl aber, wie es danach weiter geht. Vor allem zwischen 90 und 130 km/h schiebt das SUV kräftig an. Das fühlt sich eher nach einem Zwölfzylinder-Sauger als nach einem Elektroantrieb an. Da ist er wieder, der Lotus-Effekt. Und wem das nicht reicht, der kann den Eletre als «R» auch mit 675 kW (918 PS) haben. Dann ist er wirkliche ein „Hyper-SUV“, kostet aber nochmals CHF 30'000.—mehr als der «S».

Das Beste aus drei Welten

Doch auch in der schwächeren S-Version trägt dieser Lotus seinen Namen zurecht: Eletre ist ungarisch und heißt so viel wie «zu neuem Leben erwacht» – und genau das hat Geely mit Lotus getan. Seit dem Tod von Firmengründer Colin Chapman 1982 ging die Firma durch viele Hände. General Motors wusste so wenig mit der Marke anzufangen wie der malaysische Hersteller Proton. Doch erst mit der Übernahme durch Geely, denen unter anderem auch Volvo und Polestar gehört, gelang der Neustart. Heute ist die Kultmarke ein Kosmopolit: Am Gründungsort Hethel in Ostengland werden noch Sportwagen gebaut. Der Eletre, dessen coupéhafte Form aus dem Lotus-Designstudio in London stammt, wurde im Engineering-Center der Marke in Raunheim bei Frankfurt entwickelt. Gefertigt wird der Eletre in Wuhan, China. Das Beste aus drei Welten sozusagen.

Während die Ingenieure in Deutschland für das sportliche Fahrwerk, die Designer in England für die aufregende Form gesorgt haben, steuerten die Chinesen den Elektroantrieb bei: Der arbeitet mit 800 statt der üblichen 400 Volt. Dadurch lässt sich die 112 kW/h grosse Batterie besonders schnell nachladen – mit bis zu 350 kW an HPC-Ladern. Und tatsächlich: In 20 Minuten sind die Zellen zu 80 Prozent gefüllt. Sie werden aber auch schnell wieder geleert. Mit leichtem "Gasfuss" ist ein Verbrauch von 23 kW/h drin. Auf über 30 kW/h sind es pro 100 Kilometer, wenn man es Lotus-like sportlich angehen lässt. So wie es sich eigentlich für einen Lotus gehört. 

FAZIT

Der Eletre ist zwei Autos in einem: Sportlich und dabei alltagstauglich wie noch kein Lotus zuvor.

Autor mru/cen / Bilder Markus Rutishauser

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