Giampaolo Tenchini: Der Reifentestfahrer

Interview mit dem Reifentestfahrer Giampaolo Tenchini

Giampaolo Tenchini wurde 1971 in Brescia geboren, wuchs in Monza auf und lebt seit etwa einem Jahrzehnt in Lugano. Er ist Testfahrer, insbesondere für Unternehmen, die Reifen entwickeln und herstellen.

Nach zwanzig Jahren bei Pirelli, wo er Reifen für Marken wie BMW (einschliesslich der „M“ - Sparte), Mercedes-AMG und Volvo entwickelte, arbeitet er seit 2015 für Bridgestone. Dort entwickelt er Reifen für Hochleistungsfahrzeuge und wurde Erstausrüster von Lamborghini. Ein Leben hinter dem Lenkrad, von den eisigen Strassen Lapplands bis zu den Kurven der Teststrecken, nicht zu vergessen die Ausflüge zum Nürburgring. Für viele ein Traumberuf, bei dem sich sicher viele die Frage gestellt haben...

Wie wird man Reifentester?

Leider gibt es keine spezielle Schule oder einen speziellen Berufsweg. Bei den Automobilherstellern wird man nur dann zum Tester, wenn man zuvor eine lange „Lehre“ in anderen Bereichen absolviert hat. Der einzige Faktor, der die berufliche Autorität wachsen lässt und einen Unterschied machen kann, ist Erfahrung. 

Ich habe in der Automobilbranche angefangen, indem ich Fahrlehrern in einer Fahrschule assistiert habe. Mit 21 Jahren wurde ich von Pirelli eingestellt und in ein Team im Bereich „Reifentests“ integriert. Von da an ging es los, und meine Arbeit entwickelte sich im Laufe der Jahre so, dass ich schliesslich Testfahrer wurde.

Was genau macht ein Reifentestfahrer?

Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die Produkte für Händler (Reifenhändler) und den „normalen“ Kunden entwickeln. Ihr Ziel ist es, einen ausgewogenen und sicheren Reifen herzustellen. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die Reifen für die „Erstausrüstung“ entwickeln. Das bedeutet, dass diese Reifen von einem Autohersteller ausgewählt werden, um auf seine Autos montiert zu werden, wenn sie das Werk verlassen. 

Es handelt sich um Reifen, die entwickelt werden, um alle Eigenschaften eines bestimmten Modells oder einer bestimmten Version gemäss der Philosophie des Herstellers optimal zur Geltung zu bringen. Sie sind an einem bestimmten Symbol oder Code zu erkennen, z. B. „MO“ für Mercedes-Benz, ein „Stern“ für BMW, usw.

Giampaolo Tenchini im Einsatz
Giampaolo Tenchini im Einsatz

Der gewöhnliche Autofahrer wird sich jedoch fragen, ob es einen grossen Unterschied zwischen einem „normalen“ Reifen und einem speziell für eine bestimmte Version eines Automodells entwickelten Reifen gibt.

Viele Jahre lang waren Reifen ein Bauteil, in das die Hersteller nicht viel investierten. Das änderte sich erst mit Porsche, die während der Entwicklungsphase des 993 beschlossen, einen Reifen anfertigen zu lassen, der auf die Eigenschaften des Modells abgestimmt war und dessen Qualitäten verbesserte. Kurz danach tat Ferrari dasselbe. In den 2000er Jahren folgten Premiummarken wie BMW, Mercedes und Audi. Heute tun dies sogar Marken wie Hyundai für spezielle oder leistungsstarke Modelle.

Das stellt für viele Automobilhersteller einen grossen Mehrwert dar, da wir einen bereits auf dem Markt befindlichen Reifen als Grundlage nehmen und ihm Eigenschaften verleihen können, die an das Fahrzeug angepasst sind. Ein Beispiel: Ein und dasselbe Reifenmodell, dass für Mercedes-Benz homologiert ist, wird ganz andere Eigenschaften haben als ein für BMW homologiertes. BMW benötigt eher einen Reifen, der ein sportliches Fahrverhalten betont, während Mercedes-Benz eher komfortorientierte Eigenschaften bevorzugt.

Woran muss konkret gearbeitet werden, um einem Reifen die gewünschten Eigenschaften zu verleihen?

Die Arbeit kann die Optimierung verschiedener Reifeneigenschaften umfassen: Laufflächenprofil, verwendete Materialien und strukturelle Eigenschaften wie Steifigkeit. Diese können angepasst werden, um Haftung, Wasserableitung, Geräuschentwicklung, Haltbarkeit, Komfort, Handling usw. zu verbessern.

In der Praxis muss alles unter verschiedenen Bedingungen auf der Rennstrecke und darüber hinaus getestet werden, um das dynamische Verhalten zu überprüfen. Es wird getestet, wie sich das Auto mit einem bestimmten Reifen verhält, etwa bei Kurvenfahrten, Bremsen oder auf der Rennstrecke. Neben den objektiven Merkmalen kommt der subjektive Aspekt hinzu. 

Wir müssen beurteilen, wie ein Reifen das Lenkgefühl beeinflusst und ob er das Fahrwerk und die Aufhängung optimal ergänzt. Wo immer möglich, suchen wir die beste Harmonie mit den Fahrzeugeigenschaften. Dieser Entwicklungsprozess ist ein ständiger Kreislauf aus Tests und Verbesserungen. Der Testfahrer gibt präzise Rückmeldungen, die genutzt werden, um den Reifen weiterzuentwickeln.

Lamborghini - Huracan - weiss/schwarz
Lamborghini - Huracan - weiss/schwarz
Lamborghini - Huracan - grün
Lamborghini - Huracan - grün

In vielen Arbeitsbereichen haben die neuen Technologien einige Berufe radikal verändert. Auch den des Testfahrers?

In unserem Bereich hat die Technologie in den letzten fünf Jahren grosse Fortschritte gemacht. Heute verbringen wir viel Zeit im Simulator, bevor wir auf die Strecke gehen, was Zeit und Geld spart. Zum Beispiel entwickelt ein Ingenieur heute „virtuell“ mehrere Dutzend Reifen, die ich dann im Simulator testen kann. In ein oder zwei Tagen können wir bis zu fünfzig Reifen ausprobieren. Nur die besten Versionen werden dann produziert und bei den physischen Tests weiterentwickelt. 

Die menschliche Komponente bleibt jedoch entscheidend, besonders bei hochwertigen Produkten und Hochleistungsfahrzeugen. Ein Testfahrer muss seine subjektive Wahrnehmung einbringen, um zu definieren, welche Empfindungen ein Reifen und das Auto vermitteln sollen und wie sie sich verhalten sollen.

Die Zukunft Ihres Berufs ist also nicht gefährdet?

Nein, das glaube ich nicht. Es ist nur so, dass der Mehrwert, den wir bei der Produktentwicklung zu bieten wissen, wahrscheinlich zunehmend auf Nischen- und High-End-Produkte ausgerichtet sein wird. Schliesslich kann die Technik niemals das subjektive Empfinden des Fahrers ersetzen.

Text: Nicola Mazzi
Bilder: Lamborghini

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