Bevor wir auf dieses Urteil näher eingehen, erscheint uns der Verweis auf einen Leitentscheid des Bundesgerichts (BGE 143 IV 508, der auf das Urteil 142 IV 137 verweist) erforderlich. Dieses Urteil bezieht sich auf einen Rasertatbestand (Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG) in der Folge einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 58 km/h (d. h. Fahrgeschwindigkeit von 108 km/h). Zusammenfassend stellte das Bundesgericht fest, dass bei strenger Auslegung des Gesetzestextes, der vorsieht, dass die Überschreitung der in Absatz 4 festgelegten Schwellenwerte grundsätzlich eine besonders krasse Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gemäss Art. 90 Abs. 3 SVG darstellt, die Formulierung in Abs. 4 nicht vollständig klar war, da bei der Erfüllung des Tatbestandes andere Umstände vorlagen. In Auslegung der Bestimmung hielt das Bundesgericht fest, dass eine Person, die eine Geschwindigkeitsüberschreitung gemäss Art. 90 Abs. 4 SVG begeht, sich objektiv einer schwere n Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 3 SVG schuldig macht und grundsätzlich die subjektiven Bedingungen des Tatbestandes erfüllt. Denn zu berücksichtigen sei, dass die Überschreitung der in Art. 90 Abs. 4 SVG definierten Schwellenwerte allgemein das hohe Risiko eines Unfalls impliziert, wenn Hindernisse auftauchen oder der Lenker die Kontrolle über das Fahrzeug verliert. Allerdings ist der Begriff des « Rasertatbestands » angesichts der bedeutenden strafrechtlichen Folgen restriktiv auszulegen, und dem Gericht muss ein gewisser begrenzter Spielraum zur Verfügung stehen, um unter besonderen Umständen die Erfüllung subjektiven Bedingungen des Tatbestandes im Falle einer besonders krassen Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gemäss Art. 90 Abs. 4 SVG auszuschliessen.
Es handelt sich somit um eine widerlegbare Vermutung, die es dem Fahrzeuglenker ermöglicht, der Erfüllung der subjektiven Bedingungen des Tatbestandes gemäss Art. 90 Abs. 3 SVG bei Vorliegen aussergewöhnlicher Umstände zu widersprechen, insbesondere wenn die Geschwindigkeitsbeschränkung, die überschritten wurde, nicht aus Gründen der Verkehrssicherheit eingerichtet wurde.
Auch hinsichtlich Art. 90 Abs. 2 SVG (grobe Verletzung) anerkennt die Rechtsprechung, dass unter aussergewöhnlichen Umständen die Anwendung des Tatbestandes der groben Verletzung auszuschliessen ist, auch wenn der Schwellenwert für die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten wurde. Mit Blick auf ein Nichtvorliegen des Rasertatbestands hat das Bundesgericht somit festgehalten, dass eine grobe Verletzung nicht vorliegt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf einem Autobahnabschnitt aus Gründen des Umweltschutzes aufgrund einer hohen Feinstaubbelastung vorübergehend auf 80 km/h begrenzt wurde (Urteil 6B_109/2008, 6B_444/2016 ) oder wenn die überschrittene zulässige Höchstgeschwindigkeit auf Massnahmen zur Verkehrsberuhigung zurückzuführen war (Urteil 6B_622/2009). Diese Rechtsprechung in Verbindung mit Art. 90 Abs. 2 SVG bestätigt, dass selbst bei Überschreitung der festgelegten Schwellenwerte für die zulässige Höchstgeschwindigkeit das Gericht das Vorliegen aussergewöhnlicher Umstände prüfen muss. Es obliegt daher dem Fahrzeuglenker, dafür Sorge zu tragen, dass sein Fall nicht übermässig standardisiert betrachtet wird, indem er von Vornherein die aussergewöhnlichen Umstände des ihm zur Last gelegten Tatbestands darlegt.
Aussergewöhnliche Umstände können jedoch auch zulasten des fehlbaren Fahrzeuglenkers ausgelegt werden. So bestätigte das Bundesgericht am 25. Februar 2021 (Urteil BG 6B_973/2020) die Verurteilung eines Fahrzeuglenkers wegen grober Verletzung gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG aufgrund der Tatsache, dass dieser auf einem Autobahnabschnitt die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 31 km/h (d. h. Fahrgeschwindigkeit von 111 km/h) überschritten hatte.
In diesem Fall diente die Geschwindigkeitsbeschränkung auf dem fraglichen Autobahnabschnitt der Verkehrssicherheit aufgrund zur fraglichen Zeit durchgeführter Bauarbeiten. Es lagen keine besonderen Umstände vor, die eine Vermeidung der durch die Missachtung der Höchstgeschwindigkeit ausgehenden abstrakten Gefahr im Sinne des Art. 90 Abs. 2 SVG erlaubten. Als unwichtig erachtet wurden die Baustellenorganisation am fraglichen Tag sowie die Frage, ob zum Zeitpunkt und am Ort der Geschwindigkeitsüberschreitung tatsächlich Bauarbeiter auf der Baustelle tätig waren. Angesichts des Grundes, aus dem die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h gesenkt worden war, konnte der Fahrzeuglenker sich nicht darauf berufen, dass er keine ernstliche Gefahr hervorrief, weil die Baustelle sowie die Anwesenheit von Arbeitern oder anderen Verkehrsteilnehmenden nicht nachweislich waren , zumal die Baustelle beschildert war. Die Umstände in diesem Fall sind damit in keiner Weise vergleichbar mit jenen, unter denen das Bundesgericht ausnahmsweise das Vorliegen einer groben Verletzung ausgeschlossen hat, obwohl der betreffende Schwellenwert überschritten worden war.
Bei
Geschwindigkeitsüberschreitungen ist die Verkehrssicherheit
massgeblich. Dieser Grundsatz kann unabhängig von seiner Verletzung dazu
führen, dass das dem Fahrzeuglenker letztendlich zugeschriebene
Fehlverhalten als mehr oder weniger schwerwiegend betrachtet wird. Mit
der zunehmenden Verbreitung von Tempo-30-Zonen aus Gründen des
Lärmschutzes in urbanen Gebieten wird es im Interesse der Fahrzeuglenker
erforderlich sein, eine faire und konsequente Anwendung der
Rechtsvorschriften in Situationen sicherzustellen, in denen eine solche
Deklassierung nicht durch die Massgabe der Verkehrssicherheit
gerechtfertigt ist.