Kürzlich hat die Stadt Lausanne «30 km/h nachts» eingeführt. Diese Massnahme, gedacht vor allem als Mittel gegen die vom Verkehr verursachte Lärmbelastung, hat praktisch eine variable Geschwindigkeitsbeschränkung in fast allen Teilen des Gemeindegebiets zur Folge. Die generelle Geschwindigkeitsbeschränkung von 50 km/h bleibt zwar die Regel, gilt aber auf gewissen Strassen zwischen 22 Uhr und 06 Uhr als Verstoss. Es wird festgehalten, dass nur die Geschwindigkeit beschränkt und keineswegs nachts eine «30er-Zone» geschaffen werde. Schliesslich hat die Stadt Lausanne aus Kostengründen auf die Anbringung von Leuchttafeln, die ihr Display je nach Uhrzeit anpassen, verzichtet. Sie hat sich entschlossen, normale Tafeln mit Angabe der Geschwindigkeitsbeschränkung sowie ein zusätzliches Schild aufzustellen.
Das Strassenverkehrsgesetz (SVG) sanktioniert Geschwindigkeitsüberschreitungen. Dieser Beitrag befasst sich nicht ausdrücklich mit dem sogenannten Raserdelikt (Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG), das einer besonderen Regelung unterliegt. Im Wesentlichen unterscheidet das SVG zwischen den Rechtsverletzungen («einfache Zuwiderhandlung»: Art. 90 Absatz 1 SVG) und den Straftaten (schwerwiegende Verstösse: Art. 90 Absatz 2 SVG). Diese letztere Anordnung ermöglicht es, den Straftatbestand der Behinderung des öffentlichen Verkehrs (Artikel 237 des Strafgesetzbuches) zu umgehen, wobei auch eine abstrakte Gefährdung des Verkehrs in Betracht kommen kann (insbesondere BGE 90 IV 149). Im Licht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erfordert ein schwerer Verstoss gegen das SVG eine Analyse des Sachverhalts sowohl aus subjektiver als auch aus objektiver Sicht (BGE 131 IV 133). Subjektiv muss sich der Fahrer skrupellos oder schwerwiegend verkehrswidrig verhalten haben. Objektiv muss der Fahrer in grober Weise gegen eine grundlegende Verkehrsregel verstossen und die Verkehrssicherheit ernsthaft gefährdet haben.
Bei Geschwindigkeitsüberschreitungen hat das Bundesgericht im Namen der Gleichbehandlung ein Schema ausgearbeitet, mit dem das Strafrecht einer arithmetischen Logik folgt. Somit erfüllt jede Geschwindigkeitsübertretung ab einem bestimmten Prozentsatz die subjektiven und objektiven Voraussetzungen von Art. 90 Abs. 2 SVG. So gilt in einer Ortschaft eine Geschwindigkeitsübertretung als schwerwiegend, sobald die Höchstgeschwindigkeit um 25 km/h überschritten wird. Die Mindeststrafe beträgt zwanzig Tagessätze und wird in das Strafregister eingetragen.
Das oben beschriebene repressive Vorgehen wurde gemäss einem System der Geschwindigkeitsbeschränkung mit dem Kriterium der Verkehrssicherheit als Grundpfeiler erdacht und entwickelt. Nun wird seit kurzer Zeit die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht mehr nur aus Sicherheitsgründen, sondern auch aus Gründen der Volksgesundheit angewendet. So können Geschwindigkeitsbegrenzungen auch zur Bekämpfung verschiedener Arten von Umweltverschmutzung (Lärm oder Luftverschmutzung) eingesetzt werden. Dies trifft auf die nächtliche Beschränkung auf 30 km/h zu, welche die Gesundheit der Anwohner schützen soll. Angesichts dieser neuen Situation scheint das vom Bundesgericht entwickelte repressive System nicht mehr zu genügen.
Als Beweis der Gültigkeit des obenstehenden Textes muss man ein praktisches Beispiel aufführen. Ein Automobilist fährt um 21:50 Uhr mit 61 km/h und ist zu diesem Zeitpunkt 11 km/h zu schnell unterwegs, weil die generelle Geschwindigkeitsbeschränkung 50 km/h beträgt. Im jetzigen Zustand fällt dieser Straftatbestand unter Art. 90 Abs. 1. SVG, und dieser Autofahrer riskiert eine Busse von CHF 250.00 ohne Eintrag ins Strafregister. Fährt ein anderer Autofahrer um 22.01 Uhr an derselben Stelle gleich schnell, während die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h herabgesetzt wurde, beträgt die Überschreitung 31 km/h. Dieser zweite Autofahrer hat eine schwere Straftat begangen und riskiert eine Geldstrafe (mindestens 50 Tagessätze), die im Strafregister eingetragen wird.
Das oben aufgeführte Beispiel zeigt auf, dass die gegenwärtige Handhabung der Bestrafung von Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht zufriedenstellend ist. Sie wirft Probleme in Sachen Gleichbehandlung auf und scheint unverhältnismässig zu sein. Zudem wird die Feststellung des Sachverhalts grosse Probleme stellen (was ist, wenn die Uhr des Autofahrers zu langsam geht?). Richter, die früher oder später Geschwindigkeitsübertretungen auf Strassen mit variablen Geschwindigkeitsbegrenzungen zu bestrafen haben, werden daher gut beraten sein, von dem vom Bundesgericht entwickelten schematischen Ansatz abzuweichen und die objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale bei jedem Einzelfall erneut zu prüfen. Bis das Bundesgericht über die Grundsatzfrage entschieden hat muss sich ein Autofahrer, der wegen einer schwerwiegenden Verletzung der Strassenverkehrsordnung im Zusammenhang mit einer Geschwindigkeitsübertretung auf einer Strasse mit variablen Geschwindigkeitsbegrenzungen angezeigt wird, zuerst einmal gegen eine Verurteilung wehren.